Geschichten aus der Business Class:
Wir müssen reden!
„Wir müssen reden, nächsten Dienstag!“ hat Kremmer zu Steiner am Freitagnachmittag noch gesagt, kurz bevor sie ins Wochenende gingen. Die Erinnerung, die das in Steiner weckt, ist unangenehm. Seine Frau hat diesem Satz in ihren gemeinsamen Krisenzeiten eine Bedeutung gegeben, die er auch heute noch nicht vollständig erfassen kann. „Reden, worüber denn, wenn es keine Probleme gibt!“ Dieser Satz ist jedenfalls kein gutes Omen für das Gespräch mit Kremmer, und das hält seine Gedanken auch über das Wochenende auf Trab. Seine Gedanken fahren Karussell. Alles Mögliche geht ihm durch den Kopf und lähmt ihn geradezu. Am Dienstag steigt Steiner schweren Schrittes für den vereinbarten Termin die Treppe zu Kremmer, seinem Chef, im 6. Stock des Turms hoch. Gewöhnlich geht er aus sportlichen Gründen zu Fuß hinauf statt mit dem Aufzug zu fahren. Heute allerdings dient der Fußweg eher der Verzögerung der Begegnung mit Kremmer. Ab und zu war das Treppensteigen auch eine Art der Selbstkasteiung, denn Anstrengung und Erfolg gehen für Steiner Hand in Hand. Erfolg ohne Anstrengung gibt es für ihn nicht. Wenn, dann ist Erfolg ohne die entsprechende Anstrengung wohl eher Zufall – und damit aus seiner Lebenserfahrung heraus unverdient. Da ist er sich sicher. Womit Steiner aber noch hadert, ist die Beobachtung, dass Anstrengung eben auch nicht immer zum Erfolg führt. Da ist seine Arbeits- und Lebensphilosophie offensichtlich noch nicht ganz schlüssig. Was ihn insbesondere irritiert, ist allerdings, dass offensichtlich auch das Gegenteil der Fall sein kann – Erfolg ohne Anstrengung. Dafür ist sein neuer Chef ein offensichtliches Beispiel. Kremmer ist erst seit kurzem im Unternehmen, und es ist allen klar, dass es für den neuen Vorstand viel zu tun gibt. An allen Fronten muss sich die SUREGO gleichzeitig verändern. Die Produkte, die Vertriebswege, die technische Ausstattung, das Projektmanagement und, und, und …. Für Steiner sind das alles Themen, die er schon seit Jahren erkannt hat und verändert hätte, wenn es nach ihm gegangen wäre. Und er weiß, dass er mit seinen Ideen und Gedanken auf dem richtigen Weg ist. Er hat immer schon nach oben signalisiert, dass der Aufholbedarf enorm ist. Aber gut, Kremmers Vorgänger ist seinen Andeutungen gegenüber wenig zugänglich gewesen. Vor neun Monaten berief der Aufsichtsrat dann Kremmer als neuen Vorstand. Mit Steiner hat der Aufsichtsrat nicht einmal andeutungsweise darüber gesprochen, Vorstand zu werden, obwohl er wie kaum ein anderer mit den Strukturen der SUREGO vertraut ist. Er ist geradezu die SUREGO. Vielleicht hat der Aufsichtsrat seine stille Opposition zu Kremmers Vorgänger sogar als Unterstützung von dessen Strategie und Stil verstanden. Vielleicht ist seine Opposition doch zu leise, zu wenig wahrnehmbar gewesen. Was Steiner maßlos kränkt, ist Kremmers Stil, der so gar nicht dem entspricht wie er die Welt sieht. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit erfasst er einfach alles, worauf es ankommt. Und vor allem, er benennt seine Vertrauten mit Aufgaben, die auch seine, Steiners, Aufgaben sein könnten. Kremmer zieht andere mehr ins Vertrauen als ihn und strahlt eine Zuversicht aus, die für Steiner fast schon einer Beleidigung gleichkommt. Auf einmal soll alles so klar und leicht sein, was Steiner bislang so schwierig und anstrengend vorgekommen ist? Kremmers Statement ist oft: „Es ist zwar viel, aber wir können es schaffen, also fangen wir doch einfach mal an!“ Einfach?! Aber wo fangen wir an, fragt sich Steiner, wo ist der richtige Ansatzpunkt? Aber dann ist Kremmer schon wieder weiter und diesen Schwung kann Steiner nicht aufhalten. Wenn er ehrlich zu sich selber ist, kann er dieses Tempo nicht mithalten. Sogar in seinem Verantwortungsbereich werden Veränderungen gestartet, gegen die er sich nicht verwehren kann. Dabei ist er sich so sicher, dass kein Anderer davon so viel versteht wie er. Aber außer dem schlechten Gefühl, dass die anderen davon keine Ahnung haben, hat er keine guten Argumente. Es ist so viel gleichzeitig im Gange, dass er nicht überall sein kann. Was Steiner auf aber keinen Fall riskieren will, ist als Hindernis auf dem Weg zum Erfolg zu gelten. Das wäre das vollkommen falsche Signal. Und jetzt will Kremmer reden. „Was ist da im Busch?“ Dann muss er im Vorzimmer auch noch warten. Das lässt seinen ohnehin schon erhöhten Pulsschlag, den er aus dem Treppenhaus mitgebracht hat, noch weiter steigen. „Das kann alles nichts Gutes bedeuten!“