Geschichten aus der Business Class
Wie der graue Audi A6
Es ist wieder Sonntagabend und Kremmer kommt auf der Autobahn nur mühsam voran. Er pendelt und er hat eine harte Woche vor sich – noch eine harte Woche. Er ist wieder auf dem Weg zur SUREGO. Für Kremmer ist es mehr als erstaunlich, was sein Vorgänger als Geschäftsführer ihm hinterlassen hat. Er hat es bisher nicht für möglich gehalten, dass ein Mensch alleine ein Unternehmen so nachhaltig prägen kann. Gut, er hat auch Jahrzehnte dafür Zeit gehabt – aber trotzdem. Das ganze Unternehmen mit mehreren hundert Mitarbeitern ist immer noch vollständig von Noll durchdrungen. Kremmer hat Noll nach dessen unrühmlichem Abgang nicht mehr persönlich kennengelernt. Er kann nur die Folgen und Auswirkungen beobachten. Natürlich gibt es unendlich viele Geschichten und auch sehr persönliche Erlebnisse, die ihm immer noch regelmäßig und natürlich vertraulich berichtet werden. Wie er nach den ersten Monaten erkennen konnte, ist alles auf Noll zugeschnitten gewesen. Fast nichts ging unter seiner Ägide ohne ihn. Alle Fäden sind bei ihm zusammengelaufen und die Mitarbeiter auf allen Ebenen hatten mehr als Respekt vor ihm. Das war schon eher Angst. Es gab Führungsebenen unter Noll nur auf dem Papier – faktisch waren sie nicht vorhanden. Es gab nur Noll und alle anderen Mitarbeiter quer durch alle Ebenen und Funktionsbereiche waren Weisungsempfänger. Noll griff durch alle Ebenen und in alle Prozesse. Nur die technischen Bereiche fühlen sich auch jetzt noch wie ein mehr oder weniger autonomes Biotop. Und Steiner, mit dem er letzte Woche ein wenig zufriedenstellendes Gespräch geführt hat, ist ein Gewächs aus diesem Biotop. Er war auch unter Noll schon Funktionsleiter und repräsentiert ein Fachgebiet, in dem Noll nicht sattelfest gewesen ist. Kremmer selbst ist es übrigens auch nicht. Dadurch konnte sich Steiner unter Noll wohl in seinem Biotop Freiräume schaffen, die er jetzt massiv verteidigt – ohne Not, denn Kremmer stellt ihn nicht in Frage. Er will auch nicht in Steiners Funktionsbereich hineinregieren. „Aber gut, das kann Steiner noch nicht wissen“ denkt Kremmer.
Er macht Platz für den grauen Audi A6, der im dichten Verkehr seit ein paar Kilometern an der hinteren Stoßstange klebt. „Es sind immer graue Audi A6“ sinniert er. Der zieht dann in einer Gischtfahne an Kremmer vorbei, dessen Gedanken von der Autobahn wieder zur SUREGO wandern. Nur Steiner spielt im Managementteam eine Außenseiterrolle, in der er taktiert und eigene Ziele verfolgt, die nicht erkennbar im Interesse der SUREGO liegen.
Kremmer sucht im Autoradio einen anderen Sender. „Absolut Relax“ auf Band 5c im Digitalradio wäre jetzt richtig. Er stellt sich die Frage, ob er es Steiner erlauben kann, sein Eigenleben in seinem Biotop weiterhin zu kultivieren. Damit würde Steiner die notwendige Veränderung der SUREGO wahrscheinlich behindern oder zumindest verlangsamen. Andererseits strebt Kremmer an, Individualität zuzulassen im Sinne unterschiedlicher Talente, die alle auf ihre Art zum gemeinsamen Erfolg beitragen können. Aber er ist sich sicher: Steiner nutzt das für seine eigenen Interessen aus – und er überspannt den Bogen. Ihm geht es nicht um die Weiterentwicklung der Unternehmenskultur der SUREGO. Ihm geht es um sich. Das ist Kremmers Vermutung. Schon wieder ein A6, der es sehr eilig hat und seine Überlegungen stört. Er hat es noch nicht ganz klar vor Augen, aber als sich die Fontäne des A6 verzogen hat, weiß er, dass er mit Steiner in der erforderlichen Offenheit sprechen muss. „Dieses Thema muss auf den Tisch, sonst arbeite ich mich an Steiner ab und beiße mir die Zähne aus.“ Und genau dazu hat Kremmer nicht die Zeit - und auch keine Lust.
Er wechselt noch einmal den Radiosender, wieder zurück zu „Rock der 80er“, gibt Gas, zieht auf die Überholspur und hält Ausschau nach dem grauen Audi A6.