Geschichten aus der Business Class

Nicht valide und wahrscheinlich nicht reliabel


Koch, Wolff und Knauer treffen sich heute zum Mittagessen in der Cafeteria der RETRON. Trotz zarter Entenbrust mit hervorragendem Pilztrüffelrisotto will es ihnen nicht so richtig schmecken. Bis vor nicht allzu langer Zeit waren sie häufiger im Casino der RETRON zum Mittagessen. Allerdings ist der Zugang zum Casino nur auf Einladung von Mitgliedern der ersten Führungsebene möglich und diese Einladungen sind in der letzten Zeit eher selten geworden für die drei. Für sie schien es bisher nur eine Frage kurzer Zeit zu sein, bis sie selbst ins Casino einladen würden. Denn sie sind Absolventen des POP, dem Programm für Potenzialträger im Konzern. Dort hat man ihnen attestiert, dass sie hochintelligente und hervorragende Ingenieure sind. Aber gut, das war ihnen auch vorher schon klar. Stipendiaten der Studienstiftung des Deutschen Volkes und Preisträger beim Studienabschluss bekommen ihre Meriten ja nicht umsonst. Wahrscheinlich deshalb ist die RETRON auch so scharf darauf gewesen, sie schon vor dem Studienabschluss für sich zu gewinnen. Sie sind vom Academic Relationsmanager der RETRON für anspruchsvolle Praktika und für ihre Masterarbeit umgarnt worden. Der ist zwar selbst nur promovierter Soziologe, aber zumindest das Potenzial des Trios hat er erkannt. Bei einem Essen mit allen Schikanen hat er ihnen die verschiedenen karrierebegleitenden Programme erläutert, die auf sie warten werden. Das Durchlaufen dieser Programme schien aus damaliger Sicht mehr eine Formsache zu sein, um dann schnell als Projektleiter, Senior Project Manager und Teamleiter Führungserfahrung zu sammeln. Das alles sind Stationen, die es eben auch für Durchstarter wie Koch, Wolff und Knauer braucht, um in einem Unternehmen wie der RETRON dann die wirkliche, die richtige Karriere zu machen. Zwischendurch ist es sicher nicht schädlich, als Vorstandsassistent oder Assistent eines Spartenleiters sozusagen vom Feldherrnhügel aus die richtigen Kontakte zu knüpfen. Der Academic Relationsmanager hat von Perspektiven und Optionen gesprochen, aber das in einem Tonfall, der doch eine hohe Verbindlichkeit und Karrieresicherheit durchscheinen ließ. Jedenfalls haben die Drei es damals quasi als ein Versprechen verstanden, das ihnen der Academic Relationsmanager für eine nach oben offene Karriere gemacht hat. Nur ist der mittlerweile schon im Stab des Personalvorstands und nicht mehr für sie zuständig. Koch hat nach der Vertragsunterzeichnung stolz seinen Eltern von seinen hervorragenden Aussichten berichtet. Sein Vater ist Leitender Direktor in einem Ministerium. Wolff hat gegenüber seinem großen Bruder, der in einer internationalen Unternehmensberatung als Principal tätig ist, schon etwas übertrieben von garantierten Karriereschritten gesprochen. Und Knauer hat jungverheiratet die Finanzierung seines schönen und etwas überdimensionierten neuen Hauses bereits auf die Optionen der Zukunft ausgerichtet. Und jetzt hat sie offenbar irgendjemand aufs Abstellgleis gefahren. So sieht es aktuell aus. Aber wer? Und warum? In den letzten Monaten sind andere, die später bei der RETRON eingestiegen sind und zum Teil das POP noch gar nicht absolviert haben, überraschend auf der Leiter an ihnen vorbeigezogen. Koch, Wolff und Knauer haben gemeinsam um einen Termin mit dem High Potencials Manager gebeten, der ihnen aber auf Anfrage mitteilt, dass er für sie nicht mehr der richtige Ansprechpartner sei. Sie würden nicht mehr zu seinem Betreuungskreis gehören. Dies stößt auf massives Unverständnis des Trios. Auch die Erläuterung des High Potencials Managers, dass dies mit den Potenzialbeurteilungen zusammenhinge, die während der ersten fünf Jahre bei der RETRON regelmäßig für respektive über sie erstellt worden sind, erhellt die Situation für sie nicht. Genauso wenig wie das Statement, dass man aus dem Kreis der Potenzialträger ausscheidet, wenn die persönliche Karriereentwicklung innerhalb von fünf Jahren nicht mindestens auf die Stufe des Teamleiters geführt hat. Und genau das wiederum bestätigt die Einschätzung von Koch, Wolff und Knauer. Sie sind sich einig: Die Potenzialmessinstrumente des Personalbereichs der RETRON sind schön und gut, aber sie sind offenbar nicht geeignet, das Richtige zu messen. Nicht valide und wahrscheinlich nicht einmal reliabel – ein eindeutiger Fall für sie als promovierte Ingenieure der Mess- und Regeltechnik.