Geschichten aus der Business Class
Dr. Gentners Kontoführung oder die späte Rache
Mit Gentner und Legner treffen zwei Naturen aufeinander, die es nicht leicht miteinander haben – und sich wahrscheinlich für immer unverständlich bleiben würden. Dr. Gentner hat mit den Alt-68ern in Heidelberg Jura studiert und trotz nicht ganz erreichtem Prädikatsexamen auch promoviert. Das ist damals in seinen Kreisen so üblich gewesen, hat sozusagen zum Standard gehört. Seine von der 68-er-Bewegung inspirierten Kommilitonen sind Gentner ebenso wesensfremd geblieben wie es Legner viele Jahre später, eben heute auch ist. Er hat zwar schon damals geahnt, dass Dünkel und hierarchisches Gehabe nicht mehr in Mode sind und eine gewisse Lockerheit im Umgang mit Untergebenen hat auch schon in den 70ern zum guten Ton gehört. Aber in seinem genetischen Programm ist das nicht verankert, zumal er seinen beruflichen Einstieg damals in der klassischen öffentlichen Verwaltung gefunden hat. Diese Umgebung hat seinem Habitus von damals und heute eher entsprochen. Die geplante Karriere in einem Landes- oder Bundesministerium entwickelte sich allerdings nicht nach Gentners Vorstellungen. Aus dem großstädtischen Eigenbetrieb, in dessen Verwaltung Dr. Gentner tätig gewesen ist, ist eine GmbH geworden, die sich unversehens marktwirtschaftlichen Anforderungen ausgesetzt sah. Gentner wurde bei dieser Gelegenheit mit privatisiert, allerdings nur der Form nach, denn Gentner selbst blieb die Verkörperung der öffentlichen Verwaltung, auch als er einer der drei Geschäftsführer der KDG wurde. Dort traf er dann auf Legner, der in Berlin Energietechnik studiert hat, um nicht zur Bundeswehr eingezogen zu werden. Die Promotion hat er wegen seiner ungeplanten Familiengründung aus finanziellen Gründen nicht abschließen können. Er war bereits seit einigen Jahren erfolgreich im Vertrieb bei einer der vier Großen der Branche tätig und bei der KDG als neuer Vertriebsleiter Gentners Verantwortungsbereich zugeordnet. Nachdem Legner Gentner beim ersten Zusammentreffen noch angemessen als Dr. Gentner begrüßt, verzichtet er ab diesem Zeitpunkt auf diese Formalie zumal er auch als Assistent am Lehrstuhl einen eher informellen Umgang zwischen allen akademischen Ebenen kennengelernt hat. Gentner allerdings vermisst den ihm zustehenden Respekt. Etwas ungehalten murmelt er vor sich hin, dass er sich nicht erinnern könne, mit Legner im Kindergarten gewesen zu sein und er ihn ja gleich Gerti nennen könne. Legner nimmt das Angebot nicht an, lässt sich aber durch Gentner die Leichtigkeit des Umgangs nicht nehmen. Es wurmt Gentner furchtbar, aber sogar in seinen Ohren hätte es arg formalistisch und dünkelhaft geklungen, wenn er auf der aus seiner Sicht angemessenen Anrede bestanden hätte. Nichtsdestotrotz kratzt Legners Nonkonformismus an Gentners Ego und er betrachtet dieses Verhalten als absichtliche Respektlosigkeit, die er nicht auf sich und mehr noch, auch nicht auf dem Stand derer, die sich den Mühen der Promotion unterworfen hatten, sitzen lassen kann. Mittlerweile Ende der neunziger Jahre angekommen, ist sich Gentner im Klaren darüber, dass er die Angelegenheit nicht disziplinarisch richtigstellen kann, wenn er sich nicht lächerlich machen will. So beginnt Gentner, ein Konto in der Causa Legner anzulegen, das schnell einen erheblichen Umfang annimmt, weil Legner in seiner schwungvollen und unkonventionellen Art ständig Buchungen auf dieses Konto vornimmt, von denen er allerdings selbst nichts weiß. Aber Legner kann nicht leugnen, dass er die Existenz dieses Kontos ahnt – und, dass ihm Dr. Gentner Spaß macht. Seiner Unabhängigkeit und seines Marktwertes in der Branche ist er sich sicher, zumal er damit spekuliert, seinen nächsten Karriereschritt mit Richtung nach oben wieder bei einer der vier Großen der Branche zu tun. Diese Gelegenheit ergibt sich mit dem Anruf eines Headhunters, der den Kontakt zum Vorstand der Alltina herstellt. Referenzen holt der zuständige Vorstand persönlich und direkt bei seinem ehemaligen Kommilitonen, Dr. Gentner, ein. Diese Gelegenheit kann man sich doch nicht entgehen lassen, wenn man sich schon so lange kennt. Gentner genießt den Moment und überlegt, ob er sich Legner vom Hals schaffen will, indem er ihn weglobt oder ob es nicht eine gute Gelegenheit für ein spätes Rachemanöver wäre. Er wird es sich in Ruhe überlegen und dann das Entsprechende in die Wege leiten.